Rainer Gross: Grafeneck

Nazis hat es nicht gegeben in dem kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb. Natürlich nicht. Keiner hat was gewusst, damals, vor über fünfzig Jahren. Und es hat auch keiner was wissen wollen. Damals. Doch jetzt müssen sie sich erinnern, die Alten. Denn einer ihrer Söhne zwingt sie ungewollt dazu.

Der Lehrer Hermann Mauser ist etwas verschroben, wie viele im Dorf. Man hat so seine Eigenheiten und eine seiner Eigenheiten ist das Durchforschen der letzten Höhlenwinkel in der Gegend. Bisweilen findet er auch was, Reliquien anderer Epochen, eine Mumie allerdings war vorher noch nicht dabei. Der mumifizierte Körper trägt einen Anzug aus einer Kleiderfabrik ganz in der Nähe, die allerdings seit rund fünfzig Jahren nicht mehr existiert. Und er trägt ein Kreidekreuz auf dem Rücken. Das Zeichen, das Behinderten aufgemalt wurde, bevor sie nach Grafeneck abtransportiert und dort misshandelt und vergast wurden. Mauser weiß das, seine Schwester war eine von ihnen und wie sich herausstellt, kam die Kugel, mit der der Mann ermordet wurde, aus seines Vaters Waffe. Das Bild seines Erzeugers fällt in sich zusammen, Fragen werfen sich auf. Hat der Selbstmord der Mutter nach dem Abtransport der Tochter den Vater Recht nicht mehr von Unrecht unterscheiden lassen?

Mauser macht sich auf die Suche nach der Geschichte hinter der Geschichte und arbeitet teilweise mit, teilweise gegen und teilsweise parallel zum herbeorderten Kommissar. Und dabei entwickelt sich zwischen den beiden sogar so etwas wie Freundschaft.

Es ist ein Debüt und es ist gelungen. Gross verwendet eine Sprache, die einfach ist, unblumig, nüchtern beschreibend – kurze, prägnante Sätze:

„Die grau gestrichenen Busse. Weiß vermalte Fenster. Dahinter sind sie gesessen, im Sonntagsstaat, Kreidekreuze auf dem Rücken, wussten nicht, was mit ihnen vorging, wussten nicht, wohin sie gebracht wurden. (…) In Buttenhausen wusste man nichts. Bis die Öfen gequalmt haben und der Rauch in Marbach sichtbar war. Bis Gerüchte durchsickerten. Bis die Busfahrer in die Enge getrieben wurden und von dem berichteten, was sie gesehen hatten.“

Das Buch ist in der Tat, wie auf dem Klappentext beschrieben, ein Krimi – mit allen Facetten der menschlichen Traurigkeit. Unter einem „dunklen Heimatroman“ allerdings stelle ich mir etwas anderes vor, ich würde das Buch als dunklen melancholischen Kriminalroman bezeichnen und dann kommt es ungefähr hin.

Der Autor wurde 1962 in Reutlingen in Baden Württemberg geboren. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Tübingen und hängte danach noch ein Studium an einem theologischen Seminar dran. „Grafeneck“ ist seine erste Buchveröffentlichung.
3.6 Stars (3,6 / 5)

Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht

Es ist ein Albtraum, ein absoluter Albtraum – doch ist es wirklich ein Traum, ist es Realität, ist es nur seine Realität? Jonas wacht auf am Morgen des 4. Juli, alles scheint wie immer, bis er irgendwann merkt, dass er allein ist, ganz allein. Alle anderen sind verschwunden, Menschen, Tiere – alle weg.

Der Protagonist bleibt erstaunlich cool. Er arrangiert sich mit seiner Situation. Und entwickelt Strategien, um mit ihr fertig zu werden. Eine davon ist, sich selbst beim Schlafen zu filmen. Und festzustellen, dass der „Schläfer“ eine ganz eigene Identität hat. Das erklärt auch, warum Jonas zwar sehr lange schläft, aber nie wirklich Ruhe findet. Seltsame Dinge geschehen, Nachrichten, Zeichen – undeutbar und doch fühlbar relevant. Nichts ist mehr vertrauenswürdig – nicht mal er selbst – nichts ist mehr vertraut. Er beobachtet, wie der Schläfer immer mehr ein Eigenleben entwickelt, wie er Dinge tut, die Jonas völlig unerklärlich sind. Gepeinigte Schreie aus dem Off, Messer, die plötzlich in der Betonwand stecken, Puppen, die sich genau an dieser Stelle in der Wand befinden. Jonas, der früh aufwacht, das Kopfkissen voller Blut und mit vier Zähnen weniger im Mund. Auf dem Film plötzlich alles weiß, inklusive dem Schläfer selbst, seine Augen auf die Kamera gerichtet – starr, kalt, leblos und doch durchdringend bis ins Mark. Die Zeiten, die Orte verschieben sich. Seine überall postierten Kameras verschwinden teilweise, Bänder tauchen wieder auf – darauf bereits Verstorbene, quietschlebendig.

Jonas flüchtet, er will seine Freundin suchen, die am 3. Juli nach England abgereist war. Auf dieser Reise wird ihm klar, dass er nicht mehr schlafen darf. Dass er den Schlaf überlisten muss. Mithilfe von Medikamenten versucht er, sich dem Kampf zu stellen. Doch jeder, der das bereits einmal probiert hat, weiß, dass es letztendlich sinnlos ist. Der Schlaf siegt und als Jonas wieder aufwacht, findet er sich in einem vermeintlichen Sarg wieder. Er nimmt den Kampf gegen den Schlaf erneut auf. Da er und der Schläfer dieselbe Person sein müssen, muss es auch einen Weg hinaus geben….

Jonas Leben ist ein Käfig. Als er versucht, sich daraus zu befreien, wird ihm klar, was Himmel und Hölle bedeuten. Wird ihm klar, welche Dimension die Zeit hat… Jonas kämpft, doch der Schlaf ist stärker als er und letztendlich gibt er ihm nach….

Dieses Hörbuch über den Mann, den der Schlaf übermannte, ist krass. Beim Hören ist man völlig geschickt. Gefangen in dieser Geschichte zwischen den Realitäten und beeindruckt von der Coolness eines Mannes, an dessen Stelle die meisten mit ziemlicher Sicherheit bereits nach ein, zwei Tagen wahnsinnig geworden wären. Die Einsamkeit, die Unsicherheit über das Wie, das Warum und das Was, die Nächte, die sich verselbständigen und dieses unsägliche Schweigen um ihn herum – eine unerträgliche Vorstellung. Sechs CDs und keine Sekunde davon überflüssig, keine Sekunde auch nur ansatzweise langweilig. Das liegt unter anderem auch am Sprecher (der übrigens leider den Namen des Autors falsch ausspricht). Heikko Deutschmann liest dieses Hörbuch ohne große Emotion, ohne große Verwunderung über die Geschehnisse und genau das macht den Reiz aus. Es bleibt dem Hörer komplett selbst überlassen, die Phantasie spielen zu lassen, zu entscheiden, welche Stellen wirklich wichtig sind. Das bedeutet aber nicht, dass das Buch langweilig gelesen werden dürfte oder gelesen worden sei. Es ist – ganz im Gegenteil – dermaßen perfekt, dass es tatsächlich nichts mehr zu wünschen übrig lässt. Allerdings sind die persönlichen Anforderungen und Erwartungen an einen Sprecher durchaus sehr unterschiedlich. Wer sich darauf nicht einlassen möchte, ist sicher gut bedient, sich das 400 Seiten starke Buch zu besorgen. Auch weil die CDs eine gekürzte Fassung sind und das eine oder andere wohl doch etwas verloren geht.
5.0 Stars (5,0 / 5)

Stefan Naglis: Der Schatten des Geldes

Ein Familienvater wird tot in seinem Auto aufgefunden. Kopfschuss. An seiner Hand Schmauchspuren. Alles deutet auf einen Selbstmord hin.

Doch der Kriminaler Marc Steiner hat so ein komisches Gefühl. Und dem geht er nach. Auch gegen den Willen seines Chefs. Sein Gefühl trügt ihn nicht. Der Tote hat einige Leichen im Keller. Ein Auftragskiller, die Russische Mafia und die oberste Etage einer Schweizer Bank sind in die Geschichte verwickelt. Und eine Frau, die den Kripobeamten komplett aus der Spur wirft. Als seine Familie bedroht wird, bekommt er zum ersten Mal in seinem Leben richtig Angst und beginnt, Fehler zu machen. Verhängnisvolle Fehler.

Dieses Erstlingswerk von Stefan Naglis ist gut gelungen. Der Krimi ist spannend, liest sich flüssig und die eingebauten Gedankenpassagen lockern den Text noch zusätzlich auf. Die Hauptfigur erinnert etwas an den Anti-Helden Kurt Wallander des Autors Henning Mankell. Auch hier gibt es an Nebenschauplätzen Probleme mit der Frau und der Tochter, auch Marc Steiner bewegt sich immer ein wenig abseits der Vorschriften. Und auch er ist nur ein Mensch … und ein Mann.

Besonders gut gefällt mir die Rolle der Assistenten Tom und Lara. Marc glaubt Tom nach so vielen Jahren engster Zusammenarbeit zu kennen und wird in seinem Glauben an seine Menschenkenntnis komplett erschüttert. Und das gleich im zweifachen Sinn, denn auch Lara, die Neue, überrascht den eingefahrenen Polizisten immer wieder. Und zeigt, dass Vorurteile meist ins Nichts führen.

Für Krimibegeisterte durchaus lesenswert!

Der 48-jährige Stefan Naglis verdient sein Geld normalerweise als freiberuflicher Informatiker im Bereich der Züricher Banken. Er weiß also, wovon er spricht. Bereits mit 17 Jahren zeigte er Ambitionen zum Krimischreiben, aber dann kamen ihm Beruf und Familie dazwischen und erst in den letzten Jahren hatte Stefan Naglis wieder die Muße, sich hinzusetzen und seinen Figuren Leben einzuhauchen. Und jetzt ist er gerade dabei, eine Fortsetzung des Buches zu schreiben – mal sehen, ob er die Spannung halten kann…
3.3 Stars (3,3 / 5)