José Saramago: Eine Zeit ohne Tod

Es ist der erste Tag in einem neuen Jahr, irgendwo in einem Land, das Portugal ähnelt, aber nicht Portugal sein muss. Niemand ist gestorben. Und niemand wird morgen oder übermorgen sterben. Der Tod hat sich abgemeldet. Zunächst ein Grund zur Freude, doch Stück für Stück wird den Bewohnern des Landes das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Die einen jubilieren noch ob des ewigen Lebens, das sie erwartet, andere stecken fest zwischen Leben und Tod und ihr Nichtsterbenkönnen führt nicht nur zu viel Leid, sondern auch zum Entsetzen. Dunkle Seiten der Gesellschaft machen ihre Geschäfte mit der plötzlich herrschenden Realität und die Regierung ist ratlos. Auch die Kirche ist in ihren Grundfesten erschüttert, versteht von der Angelegenheit genau so viel wie alle anderen, nämlich gar nichts. Was sie aber natürlich nie zugegeben hätte:

„Die katholischen Würdenträger, vom Bischof aufwärts, fanden die mystischen Witze einiger ihrer nach Wundern dürstenden Mittelständler keineswegs komisch und übermittelten dies den Gläubigern in einer recht entschiedenen Botschaft, in der sie, neben der unvermeidlichen Bezugnahme auf Gottes unergründliche Wege, vehement jene Überzeugung vertraten, die der Kardinal bereits in den ersten Stunden der Krise spontan in dem Telefongespräch mit dem Premierminister geäußert hatte, als er, sich in die Rolle des Papstes versetzend, wobei er Gott für diese törichte Anmaßung um Verzeihung bat, die sofortige Verbreitung einer These vorschlug, nämlich der des verzögerten Tods, im Vertrauen auf die vielfach gepriesene Weisheit der Zeit, die uns versichert, dass es immer ein Morgen geben wird, das die Probleme löst, die heute noch unlösbar erscheinen.“

José Saramagos Stil zwingt den Leser nicht nur zur Konzentration, sondern verlangt auch Durchhaltevermögen. So gut die Geschichte ist, es ist schwer hineinzufinden. Von gliedernder Zeichensetzung hält der Schriftsteller wenig, von manchmal seitenlangen Sätzen dafür umso mehr. Ein linguistisches Meisterwerk und eine Freude für Syntaxliebhaber. Wahrscheinlich allerdings nur für diese.

Jeder Satz nicht nur ein Bild, sondern gleich eine ganze Ausstellung von Metaphern. Surreal und skuril ist diese Zeit ohne Tod und doch fasziniert sie, denn man wird gezwungen, etwas zu Ende zu denken und aus völlig anderer Perspektive zu betrachten, das man bis jetzt nie in Frage gestellt hat.

Interessant ist, dass nur der Tod der Menschen seinen Dienst in diesem Land eingestellt hat, denn Tiere und Pflanzen sterben nach wie vor. Tod ist also nicht einzigartig. Und wie sich schnell herausstellt, auch nicht maskulin. Und sie ändert nach einiger Zeit ihre Taktik. Indem sie die Bevölkerung zwar wieder sterben lässt, dieses Sterben aber exakt eine Woche vorher per Brief ankündigt. Damit löst sie noch mehr Angst und Schrecken aus. Bis einer ihrer violetten Briefe nicht zustellbar ist und sie selbst nach dem Rechten sehen muss. Was sie beim Adressaten erwartet, hätte sie nie erwartet…
5.0 Stars (5,0 / 5)

Geraldine Elschner/Jean-Pierre Corderoch: Hokuspokus Blumibus

Was soll Paul denn mit einem ganzen Kartoffelsack voll kleiner Körnchen machen? Dieses originelle Geburtstagsgeschenk des etwas durchgeknallten Onkel Willi ist mal wieder erklärungsbedürftig und bringt letztendlich eine ganze Stadt zum Strahlen…

Den Schulweg findet Paul fürchterlich, Mama nervt dauernd, er soll sich beeilen, der Weg durch die ganze Stadt ist sterbenslangweilig, bis Paul in der Schule angekommen ist, hat er regelmäβig schlechte Laune. Das weiβ Onkel Willi, nicht lange und es grünt und blüht im Städtchen. Alles sieht viel schöner aus, die Menschen haben plötzlich viel bessere Laune … und niemand weiβ, wer, „hokuspokus blumibus“, diesen Blumenzauber verursacht hat… niemand, bis auf den Bürgermeister, denn der kommt Paul auf die schliche…

Jean-Pierre Corderoch zeichnet verantwortlich für die detailreichen Bilder dieses Buches. Im ersten Moment empfindet man das Buch als überladen, wird aber schnell von den mitlesenden Kindern eines Besseren belehrt. „Guck mal hier und guck mal da“, und „Die sind ja toll bunt“, waren die typischen Reaktionen beim Durchblättern. Es dauert eine Weile, bis man weiterlesen darf, weil das Studieren der Bilder seine Zeit in Anspruch nimmt. Aber so soll es ja auch sein!

„hokuspokus blumibus“ ist eine Geschichte, die zeigt, dass man sich die kleine Welt um sich herum auch selbst ein wenig schöner machen kann.
5.0 Stars (5,0 / 5)

Stephenie Meyer: Biss zum Morgengrauen

Ein junges Mädchen, dessen Eltern getrennt sind, entscheidet sich – notgedrungen – für das Leben beim Vater. In einem langweiligen, dunklen, verregneten Kaff in Washington State. Bereits bei ihrem ersten Besuch in der neuen Schule fällt ihr Edward auf… und man denkt, man hätte ein seichtes Collegemärchen vor sich. Doch es ist deutlich mehr.

Edward und seine Familie sind Vampire. Da kommt Bella schnell dahinter. Und Edward ist von Bella genauso fasziniert wie sie von ihm. Er vertraut ihr seine Geschichte an und begibt sich damit voll und ganz in ihre Hände, genau wie sie sich ihm ausliefert – Vertrauen steht gegen Vertrauen. Bis eine zweite Vampirfamilie im Ort auftaucht und einer von ihnen es auf das Menschenmädchen abgesehen hat. Der Kampf kann beginnen….

Eigentlich ist das Buch mit dem besonders schönen (deutschen) Cover für Jugendliche geschrieben, aber es ist definitiv kein Jugendbuch im typischen Sinne. Das Hörbuch ist von der Schauspielerin Ulrike Grote übrigens eine Spur zu mädchenhaft vertont worden. Man hätte Edwards Charakter sicher auch mit einer Frauenstimme deutlich geheimnisvoller darstellen können. Doch trotzdem: Die Entwicklung der Beziehung zwischen Bella und Edward, die typischen und untypischen Momente, die die beiden miteinander erleben, der Spannungsbogen, der gegen Ende massiv erhöht wird – durchaus gelungen!

Das Nachfolgebuch ist bereits auf dem Markt. Doch über den Sinn von Fortsetzungsgeschichten lässt sich streiten. Irgendwann ist immer die Luft raus und dann bereut man es, den zweiten Band überhaupt noch in die Hand genommen zu haben. Doch manche Erzählung ist so dicht, dass sie durchaus noch Stoff für Hunderte von Seiten in sich trägt. Diese hier könnte eine davon sein. Schade ist allein, dass durch die Existenz des zweiten Buches das Ende des ersten lächerlich erscheint. Denn manches sollte man vielleicht doch lieber der Phantasie überlassen. Vor allem, wenn sie so gekonnt angeregt wurde.
4.6 Stars (4,6 / 5)

Sean Stewart/Jordan Weisman: Cathy’s Book

So richtig schön durchgeknallt und endlich mal was anderes auf dem (Jugend-)Buchmarkt ist Cathy’s Book – so eine Art interaktiver Tagebuchkrimi.

Cathy ist verschwunden und sie hat ihrer besten Freundin Emma und auch ihrer Mutter nur eines hinterlassen: ihr Tagebuch. Sie nennt es in einem Brief das „Beweismaterial“ und weist darauf hin, dass die darin aufgezeichneten Telefonnummern angerufen und die Webseiten angeklickt werden sollen. Und genau darin liegt der Reiz dieses Buches. Es ist interaktiv, man soll handeln und landet auch tatsächlich auf entsprechenden Seiten oder weiterführenden Mailboxen.

Was es mit Victor, Cathys Exfreund, auf sich hat, warum sie plötzliche eine Einstichstelle im Arm hat, die verdächtig nach Fixen aussieht und wo sie eigentlich ist, das muss man sich Stück für Stück selbst zusammenreimen.

Allein die Aufmachung dieses Romans mit Thrillerelementen ragt aus all dem Coolness-Einheitsbrei der Jugendliteratur deutlich heraus. Cathy’s Book ist aufgemacht wie ein echtes Tagebuch mit den üblichen Randkritzeleien und Zeichnungen. Und das erste, das einem auffällt, wenn man das Buch in die Hand nimmt, sind die auf der Innenseite eingeklebten „Beweise“. Zettelchen, vollgekritzelte Servietten, Todesanzeigen, alte Fotos, Kalenderseiten und lauter Kram, den man in jedem Tagebuch finden könnte und der Stück für Stück auf den Weg zu des Rätsels Lösung führen soll. Es aber nicht wirklich tut, denn das Rätsel löst sich auch von alleine. Aber mit den Hinweisen kann man Cathy immerhin immer einen kleinen Schritt voraus bleiben.

Dieses Buch könnte der Anfang von etwas ganz Neuem sein – hier handelt es sich nicht um eine erzählte Geschichte, es handelt sich auch nicht um einen Tagebuchroman, sondern hier wird wohl zum ersten Mal in dieser Form mit real Existierendem gespielt und das genau auf heutiges jugendliches Verhalten abgestimmt. E-Mails, Telefonieren wo auch immer man ist, Chatten, Anrufbeantworter und all der Technikkram, den es in der Jugend anderer noch gar nicht gegeben hat.

Fazit: Witzig gemacht und vor allem bei den weiblichen Lesern zwischen 15 und 30 Jahren dürfte dieses Buch genau ins Schwarze treffen.

Jordan Weisman ist übrigens ein bekannter und rund hundert Mal ausgezeichneter Designer von PC-Spielen und Sean Stewart ein mehrfach preisgekrönter Fantasyautor und zusammen sind sie es gewohnt, sich in der interaktiven und der virtuellen Welt zu bewegen. Sie haben bereits vor Jahren ein Spiel entwickelt, das vorgibt, gar kein Spiel zu sein – und verwenden dieses Prinzip auch jetzt bei Cathy’s Book wieder.
3.1 Stars (3,1 / 5)

David Safier: Mieses Karma

“Der Tag an dem ich starb, hat nicht wirklich Spaß gemacht.“

Gibt es ein Leben nach dem Tod? Muss es ja wohl geben, denn ein Satz wie obiger kann kaum von einer Leiche kommen. Und wenn man den Buchtitel sowie das Titelbild mit der Abbildung einer Ameise in Kombination mit dem ersten Satz betrachtet, dann wird nicht nur bei Menschen mit dem festen Glauben an Reinkarnation die Neugier geweckt.

Karriere oder ihre kleine Tochter, der altgediente brave Ehemann oder der coole Geliebte, Menschlichkeit oder Stutenbissigkeit – für Kim lange keine Frage. Das bisschen schlechte Gewissen lässt sich herunterschlucken und morgen ist ja auch noch ein Tag. Denkt sie. Denn in der Nacht wird die frisch mit dem Fernsehpreis ausgezeichnete Moderatorin von einer aus dem All stürzenden Raumstation erschlagen. Und findet sich als Ameise reinkarniert wieder.

„Ich sah das Licht.
Es wurde immer heller.
Es war wunderschön.
Es umhüllte mich.
Sanft.
Warm.
Liebevoll.
Ich umarmte es und ging darin auf.
Gott, ich fühlte mich so wohl.
So geborgen.
So glücklich.
Ich war wieder voller Urvertrauen.
Doch dann wurde ich von dem Licht wieder abgestoßen.
Ich verlor die Besinnung.
Als ich wieder aufwachte, merkte ich, dass ich einen riesigen Kopf hatte.
Und einen wahnsinnigen Hinterleib.
Und sechs Beine.
Und zwei extrem lange Fühler.
Und das war die Nummer Eins der miesesten Augenblicke des Tages!“

Es war doch ein bisschen viel schlechtes Karma, das sie so angesammelt hatte. Der Weg zurück ist mit einigen Krümeln von Riesenausmaßen gepflastert. Doch Casanova höchstpersönlich steht ihr tapfer zur Seite und schafft es dabei auch selbst – nach etlichen Ameisenleben – ein Stückchen weiter Richtung Nirwana.

„Der Tag, an dem ich starb, hat nicht wirklich Spaß gemacht.“ Allein das „nicht wirklich“ lässt linguistisch gesehen auf ein frisches Buch voll Ironie schließen. Und eins kann vorweg genommen werden: Man wird nicht enttäuscht. Der Autor hält, was er im ersten Satz seines Romans verspricht. Seine Geschichte ist gut, seine Sprache einfach aber nicht banal, seine Protagonisten überzogen aber nicht lächerlich

Auch, wenn er zum ersten Mal die Seiten eines Romans gefüllt hat, ein unbeschriebenes Blatt ist der in Bremen lebende David Savier wahrlich nicht. Seine Drehbücher zu einigen TV-Hits haben ihm bereits eine beträchtliche Anzahl an Preisen eingebracht. Mit dem Grimme-Preis, dem Deutschen Fernsehpreis und dem Emmy ausgezeichnet, hat er jetzt auch auf dem Gebiet der Schriftsteller eine wahre Meisterleistung vollbracht. „Mieses Karma“ ist eines der phantasievollsten, witzigsten und originellsten Bücher der letzten Zeit.

Extrem empfehlenswert!
5.0 Stars (5,0 / 5)

Christine Nöstlinger: Luki live

Wenn die Hormone kreisen, geht der Verstand auf Reisen… Von dem Wahrheitsgehalt dieses Spruches kann sich auch Ariane überzeugen. Ihr bester Freund Luki kommt völlig anders aus seinem Sommeraufenthalt in England zurück. Er hat beschlossen, ab sofort seine Persönlichkeit zu verändern und damit fängt er außen an.

Das bedeutet, dass er neuerdings wie ein bunter Vogel daherkommt. Mit den Schuhen seines toten Großvaters, mit Selbstgestricktem seiner Mutter und mit einem alten Fahrrad, das jeden Moment auseinander zu fallen droht. Seine Haare sind im Sommer gewachsen und werden in einem Pferdeschwanz gebändigt. Doch das Entscheidende: Der junge Mann will fortan immer nur die Wahrheit sagen, egal, ob man das tut oder nicht… alle finden Luki cool, nur Ariane beobachtet das Ganze äußerst misstrauisch. Lukis verhalten auch ihr gegenüber verwirrt sie. Doch als ihr Freund sich in eine andere verliebt, wird dem Mädel klar, was zu tun ist!

„Luki live“ ist rund 30 Jahre alt und trotzdem immer noch genauso aktuell wie damals. Das Buch spricht Kindern, oder besser gesagt angehenden Jugendlichen, direkt aus dem Herz. Und dafür ist Christine Nöstlinger ja sowieso bekannt. Der „Zwerg im Kopf“, der „Gurkenkönig“ oder „Rosa Riedl, Schutzgespenst“ sind Figuren, die einen ein Leben lang begleiten und dann mit den eigenen Kindern wieder aktuell werden. Die Astrid Lindgren Österreichs schreibt so zeitlos, dass der Beltz-Verlag mit der Neuauflage des „Luki live“ genau das Richtige gemacht hat.

Besonders schön: Das österreichisch-deutsche Glossar.
5.0 Stars (5,0 / 5)

Ronlyn Domingue: Alle Tage, alle Nächte

Es ist der erste Roman der Autorin und es ist eine der schönsten Liebesgeschichten, die es auf dem Markt gibt. Die Geschichte von Raziela, die nach ihrem frühen Tod in der Zwischenwelt verweilt und um ihre verlorene Liebe Andrew trauert, geht nahe. Verdammt nahe.

Amerika, New Orleans, die wilden Zwanziger: Raziela verkörpert genau den Typ Frau, der uns aus dieser Epoche in „Erinnerung“ geblieben ist. Lebenslustig, klug und ganz ihrer Weiblichkeit bewusst kämpft sie für ihre Ziele. Sie will Ärztin werden, will Frauen den Weg zur Empfängnisverhütung weisen, will die ach-so-männliche Welt verändern. Obwohl sie dem maskulinen Teil der Menschheit durchaus nicht abgeneigt ist, vor allem nicht Andrew…. Die beiden sind wie füreinander geschaffen, doch Raziela zögert mit der Antwort, als Andrew sie um ihre Hand bittet. Sie bekommt nie mehr die Gelegenheit ihm zu antworten, denn es kommt zu einem tödlichen Unfall, über den Andrew nie hinwegkommt. Aber auch sie nicht. Ihre Seele verweilt in der Zwischenwelt, körper-, schwere- und rastlos. Bis sie ihn bzw. seine Blutspur wieder findet.

Die Autorin, 1969 geboren, ist bereits für einige ihrer Kurzgeschichten ausgezeichnet worden, „Alle Tage, alle Nächte“ sollte zunächst ebenfalls eine solche werden, wurde dann aber doch zum Roman ausgebaut. Glücklicherweise. Ein Besuch ihrer Website lohnt sich vor allem nach der Lektüre des Buches, denn es sind dort Textpassagen zu finden, die ihren Weg nicht zwischen die Buchdeckel gefunden haben und damit noch mal eine ganz besondere Ergänzung darstellen.

„Alle Tage, alle Nächte“ wurde aus dem Englischen von Miriam Mandelkow und Susanne Höbel übersetzt. Nicht besonders gelungen ist dabei die Übersetzung des Titels, denn der Originaltitel „The mercy of thin air“ trifft es deutlich besser.
5.0 Stars (5,0 / 5)