Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht

Es ist ein Albtraum, ein absoluter Albtraum – doch ist es wirklich ein Traum, ist es Realität, ist es nur seine Realität? Jonas wacht auf am Morgen des 4. Juli, alles scheint wie immer, bis er irgendwann merkt, dass er allein ist, ganz allein. Alle anderen sind verschwunden, Menschen, Tiere – alle weg.

Der Protagonist bleibt erstaunlich cool. Er arrangiert sich mit seiner Situation. Und entwickelt Strategien, um mit ihr fertig zu werden. Eine davon ist, sich selbst beim Schlafen zu filmen. Und festzustellen, dass der „Schläfer“ eine ganz eigene Identität hat. Das erklärt auch, warum Jonas zwar sehr lange schläft, aber nie wirklich Ruhe findet. Seltsame Dinge geschehen, Nachrichten, Zeichen – undeutbar und doch fühlbar relevant. Nichts ist mehr vertrauenswürdig – nicht mal er selbst – nichts ist mehr vertraut. Er beobachtet, wie der Schläfer immer mehr ein Eigenleben entwickelt, wie er Dinge tut, die Jonas völlig unerklärlich sind. Gepeinigte Schreie aus dem Off, Messer, die plötzlich in der Betonwand stecken, Puppen, die sich genau an dieser Stelle in der Wand befinden. Jonas, der früh aufwacht, das Kopfkissen voller Blut und mit vier Zähnen weniger im Mund. Auf dem Film plötzlich alles weiß, inklusive dem Schläfer selbst, seine Augen auf die Kamera gerichtet – starr, kalt, leblos und doch durchdringend bis ins Mark. Die Zeiten, die Orte verschieben sich. Seine überall postierten Kameras verschwinden teilweise, Bänder tauchen wieder auf – darauf bereits Verstorbene, quietschlebendig.

Jonas flüchtet, er will seine Freundin suchen, die am 3. Juli nach England abgereist war. Auf dieser Reise wird ihm klar, dass er nicht mehr schlafen darf. Dass er den Schlaf überlisten muss. Mithilfe von Medikamenten versucht er, sich dem Kampf zu stellen. Doch jeder, der das bereits einmal probiert hat, weiß, dass es letztendlich sinnlos ist. Der Schlaf siegt und als Jonas wieder aufwacht, findet er sich in einem vermeintlichen Sarg wieder. Er nimmt den Kampf gegen den Schlaf erneut auf. Da er und der Schläfer dieselbe Person sein müssen, muss es auch einen Weg hinaus geben….

Jonas Leben ist ein Käfig. Als er versucht, sich daraus zu befreien, wird ihm klar, was Himmel und Hölle bedeuten. Wird ihm klar, welche Dimension die Zeit hat… Jonas kämpft, doch der Schlaf ist stärker als er und letztendlich gibt er ihm nach….

Dieses Hörbuch über den Mann, den der Schlaf übermannte, ist krass. Beim Hören ist man völlig geschickt. Gefangen in dieser Geschichte zwischen den Realitäten und beeindruckt von der Coolness eines Mannes, an dessen Stelle die meisten mit ziemlicher Sicherheit bereits nach ein, zwei Tagen wahnsinnig geworden wären. Die Einsamkeit, die Unsicherheit über das Wie, das Warum und das Was, die Nächte, die sich verselbständigen und dieses unsägliche Schweigen um ihn herum – eine unerträgliche Vorstellung. Sechs CDs und keine Sekunde davon überflüssig, keine Sekunde auch nur ansatzweise langweilig. Das liegt unter anderem auch am Sprecher (der übrigens leider den Namen des Autors falsch ausspricht). Heikko Deutschmann liest dieses Hörbuch ohne große Emotion, ohne große Verwunderung über die Geschehnisse und genau das macht den Reiz aus. Es bleibt dem Hörer komplett selbst überlassen, die Phantasie spielen zu lassen, zu entscheiden, welche Stellen wirklich wichtig sind. Das bedeutet aber nicht, dass das Buch langweilig gelesen werden dürfte oder gelesen worden sei. Es ist – ganz im Gegenteil – dermaßen perfekt, dass es tatsächlich nichts mehr zu wünschen übrig lässt. Allerdings sind die persönlichen Anforderungen und Erwartungen an einen Sprecher durchaus sehr unterschiedlich. Wer sich darauf nicht einlassen möchte, ist sicher gut bedient, sich das 400 Seiten starke Buch zu besorgen. Auch weil die CDs eine gekürzte Fassung sind und das eine oder andere wohl doch etwas verloren geht.
5.0 Stars (5,0 / 5)

Simone Klages: Taschis erster Schultag

Rund 808.000 Erstklässler gab es nach Auskunft des Statistschen Bundesamtes im vergangenen Schuljahr in Deutschland. Etwas weniger werden in diesem Jahr erwartet. Trotzdem sind das eine ganze Menge Schultüten, die gefüllt werden wollen. Und da man die riesigen Dinger ja nicht nur mit Süßkram zustopfen will und auch Spitzer und Co für ein etwa sechsjähriges Kind nicht unbedingt der Traum schlechthin sind, wäre das doch mal wieder die passende Gelegenheit für ein passendes Buch…

Taschi ist ein ganz normales sechsjähriges Mädchen mit einer relativ normalen Familie und einer besten Freundin. Miri. Und natürlich ist es klar, dass es für die Mädels nur noch ein Thema gibt: der bevorstehende Schulbeginn. Doch der große Tag kommt ganz anders als es sich Natascha erhofft hat. Miri sitzt plötzlich neben der doofen Rosaline, sie muss neben dem noch dämlicheren Kalle sitzen und die Lehrerin, die sie am wenigsten wollte ist jetzt natürlich die ihre. Auch die neuen Regeln fallen Taschi nicht leicht. Wenn man aufs Klo muss, muss man sich melden, Nase putzen darf man aber auch ohne und wenn man nicht aufpasst, kann man sich ziemlich schnell vor der ganzen Klasse blamieren. So hatte sie sich das nicht vorgestellt.

Wie Taschi lernt, sich in der Schule zurecht zu finden, was es Geheimnisvolles mit Kalle und Rosaline auf sich hat und warum Frau Pauli alles andere als unsymphatisch ist, das wird von Simone Klages ziemlich spannend auf rund 200 Seiten erzählt.

Das Buch eignet sich aber nicht nur für ein bisschen geübtere Erstleser, sondern auch zum Vorlesen vor oder in der ersten Phase des Schulalltags. Ich habe es bereits an meinem eigenen Vorschulkind getestet und es war mit Begeisterung aber oft auch mit Erstaunen dabei. Taschi erlebt genau die Dinge, die derzeit Thema Nummer eins im Kinderköpfchen sind. Und auch ihre kleinen Misserfolge geben Mut, denn sie zeigen, dass zwar nicht alles immer rosarot ist, aber alles sich oft auch wieder zum Besten wendet. Und plötzlich war meine Tochter bereit, auch über Ängste bezüglich der neuen Lebensphase mit mir zu sprechen.

Abgesehen von diesem Erfolg hat es einfach nur Spaß gemacht, dieses Buch vorzulesen. Es ist flüssig geschrieben und man ist selbst gespannt, wie es denn nun weitergeht.

Es gibt übrigens noch mehr Geschichten rund um die Najas, wie Natascha und ihre Schwestern genannt werden. Für die jüngeren Kinder ab sieben „Der geheimnisvolle Kürbiskopf“, für die größeren ab zehn die Reihe „Die Detektive von Cismar“.

Simone Klages ist nicht nur eine bekannte Kinderbuchautorin, sie illustriert auch selbst und ist für ihre „Stempeltechnik“, die sie auch in diesem Buch anwendet, bekannt.
3.9 Stars (3,9 / 5)

Stefan Naglis: Der Schatten des Geldes

Ein Familienvater wird tot in seinem Auto aufgefunden. Kopfschuss. An seiner Hand Schmauchspuren. Alles deutet auf einen Selbstmord hin.

Doch der Kriminaler Marc Steiner hat so ein komisches Gefühl. Und dem geht er nach. Auch gegen den Willen seines Chefs. Sein Gefühl trügt ihn nicht. Der Tote hat einige Leichen im Keller. Ein Auftragskiller, die Russische Mafia und die oberste Etage einer Schweizer Bank sind in die Geschichte verwickelt. Und eine Frau, die den Kripobeamten komplett aus der Spur wirft. Als seine Familie bedroht wird, bekommt er zum ersten Mal in seinem Leben richtig Angst und beginnt, Fehler zu machen. Verhängnisvolle Fehler.

Dieses Erstlingswerk von Stefan Naglis ist gut gelungen. Der Krimi ist spannend, liest sich flüssig und die eingebauten Gedankenpassagen lockern den Text noch zusätzlich auf. Die Hauptfigur erinnert etwas an den Anti-Helden Kurt Wallander des Autors Henning Mankell. Auch hier gibt es an Nebenschauplätzen Probleme mit der Frau und der Tochter, auch Marc Steiner bewegt sich immer ein wenig abseits der Vorschriften. Und auch er ist nur ein Mensch … und ein Mann.

Besonders gut gefällt mir die Rolle der Assistenten Tom und Lara. Marc glaubt Tom nach so vielen Jahren engster Zusammenarbeit zu kennen und wird in seinem Glauben an seine Menschenkenntnis komplett erschüttert. Und das gleich im zweifachen Sinn, denn auch Lara, die Neue, überrascht den eingefahrenen Polizisten immer wieder. Und zeigt, dass Vorurteile meist ins Nichts führen.

Für Krimibegeisterte durchaus lesenswert!

Der 48-jährige Stefan Naglis verdient sein Geld normalerweise als freiberuflicher Informatiker im Bereich der Züricher Banken. Er weiß also, wovon er spricht. Bereits mit 17 Jahren zeigte er Ambitionen zum Krimischreiben, aber dann kamen ihm Beruf und Familie dazwischen und erst in den letzten Jahren hatte Stefan Naglis wieder die Muße, sich hinzusetzen und seinen Figuren Leben einzuhauchen. Und jetzt ist er gerade dabei, eine Fortsetzung des Buches zu schreiben – mal sehen, ob er die Spannung halten kann…
3.3 Stars (3,3 / 5)

Inda Uruburu/Helen Schneider: Maximilian Schnecks wunderbarer Regentag

Nichts ist ätzender als tagelanger Regen. Der kann einem ja wirklich alles vermiesen. Die lang geplante Party absaufen lassen, das romantische Picknick überfluten und die warmen Abende draußen, auf die man sich im Winter so gefreut hat, aus denen wird auch nichts.
So ähnlich geht’s auch Danny. Er kann Regentage nicht ausstehen. Auf der Veranda sitzen und zuschauen zu müssen, wie es stetig runterplätschert, findet er sooo langweilig. Dabei wollte er doch eigentlich auf die Kirchweih. Karussell fahren und auf der Wasserrutsche heruntersausen.

Doch es ist immer eine Frage der Perspektive.

Die kleine Schnecke Maximilian Schneck nämlich, in deren Haut Danny auf keinen Fall stecken möchte, findet Regentage toll. Denn dann schafft auch er es endlich einmal, die ganze Straße zu überqueren. Dabei helfen ihm die anderen Tiere, und im Gegensatz zu Danny und seinen Schwestern hat Herr Schneck an diesem Tag eine ganze Menge Spaß. Und für morgen, da wünscht er sich wieder einen so schönen Regentag. Im Gegensatz zu den Kindern.

Da sieht man mal, wie schwer es Petrus hat….

„Maximilian Schnecks wunderbarer Regentag“ hat mir sehr gut gefallen. Weil es so schön beide Seiten beleuchtet, weil es zeigt, dass es immer eine andere Sichtweise gibt. Und weil es niedlich geschrieben und gezeichnet ist. Die kleine Schnecke ist sympathisch. Es macht Spaß, sie dabei zu beobachten, wie sie genau die Dinge erlebt, auf die Danny wetterbedingt verzichten muss. Von der Katzenpfote gekreiselt, von der Schwalbe hochgehoben, von der Schlange ein Stückchen mitgezogen. Maximilian Schneck hat seinen Spaß und der Tag, an dem die Sonne wieder scheint, der kommt ja bestimmt….

Dieses Buch hat Helen Schneider, die gerade erst ihr neues Album „Like a Woman“ herausgebracht hat, gemeinsam mit ihrer besten Freundin und Songschreiberin Linda Uruburu geschrieben. Illustriert hat es Lilli Messina, die man bereits von anderen Bilderbüchern kennt. Und weil es soviel Spaß gemacht hat, haben die Drei nicht nur ein, sondern gleich zwei Bücher veröffentlicht. In den Tiergeschichten sind wieder Danny, Amanda und Nicole die menschlichen Hauptpersonen.
3.5 Stars (3,5 / 5)

Wißkirchen/Pricken: Mein lustiges Spielebuch

Oje, der Kindergeburtstag steht an und wenn endlich die Liste der Eingeladenen ausdiskutiert ist, dann hat man das nächste Problem: Wie soll man die wilde Meute nur beschäftigen? Da kommt „Mein lustiges Spielebuch“ genau richtig. Hier findet man super Ideen für jede Kinderfete und nicht nur dafür.

Beim Durchblättern dieses fröhlich aufgemachten Buches überschwemmen einen die Kindheitserinnerungen. All die klassischen Spiele, die schon seit Jahrzehnten Spaß machen, hat Christa Wißkirchen jetzt gesammelt. Manche hatte man schon wieder vergessen, andere nur mit einem „Da war irgendwie ein Ei dabei und ein Stuhl oder so“ rudimentär auf der cerebralen Festplatte gespeichert, manche sind auch ganz neu – zumindest für mich. Aber da werden wohl in jedem Leser andere kindheitserinnerungen wach. Man findet zusätzlich zu zig Spielideen auch Klatschverse und lustige Zungenbrecher. Eine ganze Menge also nicht nur für Kindergeburtstage, sondern auch für Autofahrten, den Strand oder verregnete Tage zuhause. Niedlich und einfallsreich illustriert von Stephan Pricken und schön übersichtlich strukturiert ist es ein Buch, das Eltern das Spiel des Lebens deutlich vereinfachen kann.
4.3 Stars (4,3 / 5)

Taichi Yamada: Sommer mit Fremden

Der japanische Literaturwissenschaftler und Drehbuchautor Taichi Yamada hat sich des Themas Sterben von einer ganz anderen Seite genähert. Und dabei ein Buch geschaffen, das man getrost zu den Highlights des Jahres zählen darf.

Hideo Harada hat im Alter von zwölf Jahren seine Eltern verloren. Jung und verliebt wurden sie bei einem Unfall aus dem Leben gerissen. Der kleine Junge, den sie hinterließen, lernte, mit den Wunden des Verlusts zu leben und irgendwann später ist er sich sicher, dass er gut darüber hinweggekommen ist. Denkt er. Denn als seine Frau ihn verlässt, brechen sich die Verlustängste neue Bahnen in seiner Seele. Harada kehrt zurück an den Ort seiner Kindheit, den er seither gemieden hat und trifft dort auf ein Ehepaar, das aussieht wie seine Eltern, das sich so verhält, wie seine Eltern, das von sich behauptet, sein Vater und seine Mutter zu sein. Harada ist fasziniert und entsetzt zugleich und er wird süchtig nach Besuchen in seinem vermeintlichen Zuhause. Kei, seine Freundin, versucht ihn zu warnen und lässt dabei völlig außer Acht, dass sie ihn vielleicht vor sich selbst hätte warnen sollen…

Dieses Buch ist so genial, dass ich es nach dem Lesen am liebsten gleich wieder auf der ersten Seite aufgeschlagen hätte. Es ist eines der Bücher, die einen nach dem Ende in ein tiefes Loch fallen lassen. Taichi Yamada versteht es mit einer Leichtigkeit, ein dermaßen beklemmendes und doch völlig fasziniertes Gefühl im Leser hervorzurufen, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte. Und sein Finale ist – wenn auch nicht unerwartet – unbeschreiblich gut.
4.9 Stars (4,9 / 5)