Val Emmich: Die Unvergesslichen

Menschen wie die zehnjährige Joan gibt es nur ganz selten auf der Welt: Das junge Mädchen hat das perfekte Gedächtnis. Sie erinnert sich an jedes noch so kleine Detail. Was zunächst klingt wie ein Segen, ist bisweilen ein ziemlicher Fluch. Denn normale Menschen können das nicht und das frustriert Joan.

Bis sich ein Freund ihrer Eltern komplett auf ihre Erinnerungen einlässt. Gavin, ein bekannter Songwriter, hat gerade erst seinen Partner Sydney verloren und damit seinen ganzen Lebensmut. Und die Musik. Joan hilft ihm, seine Erinnerungen zu sortieren und zu ergänzen und bitte ihn dafür nur um eines: den perfekten Song zu schreiben. Einen, der auch für all die, die nicht über so ein Gedächtnis wie sie verfügen, unvergesslich bleibt.

Es ist nicht ganz einfach, in dieses Buch zu kommen. Wirklich Sympathie für seine Darsteller zu empfinden. Für Joan, die ihrer Umwelt und damit auch dem Leser bisweilen mit ihren Macken ziemlich auf den Geist geht, für die Eltern, die scheinbar so gefühllos mit Joan umgehen, für den trauernden Gavin, der sich komplett hängenlässt und Sydney, der, wie es scheint, alles andere als treu war … doch dann wendet sich das Blatt und man kann das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Ivonne Keller: Lügentanz

Michaela Michaelsen hat immer wieder Erinnerungs-Aussetzer. Nicht in der Form, dass sie ihren Schlüssel nicht findet, oder sich nicht an die Farbe des Abschlussballkleides erinnert. Die Folgen sind viel gravierender. Zum Beispiel dann, wenn sie sich nicht im Geringsten daran erinnern kann, dass die Lehrerin ihrer Tochter von der Klassenfahrt angerufen hat, um ihr von deren Unfall zu berichten. Oder sie glaubt, ihr Mann habe ihr mitgeteilt, sich trennen zu wollen, obwohl er sich nach wie vor ganz normal zu verhalten scheint. Ist sie verrückt? Spielt er ein böses Spiel mit ihr? Michaela braucht Abstand und nimmt sich eine Auszeit. Dazu übernimmt sie den Job eines Wohnungssitters und trifft in diesem Zusammenhang neben dem Hund Pim zwei Menschen, die bald eine große Rolle in ihrem Leben spielen werden: Lena und Jan. Wobei Lena dabei deutlich der interessantere Charakter ist. Und im Verlauf der Geschichte auch die interessantere Rolle spielt: Denn Lena übernimmt Michaelas Part, bei Mann und Kind…literarischer Sprengstoff sozusagen.

Ivonne Keller, die früher unter dem Pseudonym Jule Engels veröffentlichte, hat sich in letzter Zeit auf ernstere Themen spezialisiert. Hirngespenster ist hier das beste Beispiel dafür. Aber auch ihr Lügentanz lässt keine Langeweile aufkommen. Die sich anbahnende Freundschaft zwischen Lena und Michaela, zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die Spurensuche nach dem Grund für die Erinnerungslücken und deren Auflösung – keines der Bücher, die man nie mehr aus der Hand legen möchte. Aber eines von denen, die einem noch eine Weile im Kopf bleiben.
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