Andrea Ulmer: Solange wir uns haben

Eigentlich hat sie ihr Leben im Griff. Jessica ist 42 Jahre alt, alleinerziehende Mama einer pubertierenden Tochter und hat einen Job in einer Agentur. Nicht einfach, ist aber machbar. Bis sie plötzlich von Panikattacken heimgesucht wird. Nicht mehr Auto fahren kann, jede Kleinigkeit ihr schon zu viel wird und sie sich nur noch im Haus verschanzt. Zuerst nervt es ihre Tochter nur, aber Stück für Stück wird es zum Problem und Jessica ist gezwungen, sich helfen zu lassen. Loslassen und anderen die Führung überlassen – das ist die Aufgabe der Protagonistin in ihrem Buch. Um dann wieder zu sich zu finden und neue Wege einzuschlagen.

Ganz ehrlich nervt es manchmal, dass in fast jedem Roman, der eher für Frauen als für Männer ausgelegt ist, mindestens eine, meistens sogar die Hauptperson in einer Agentur arbeitet, irgendwas mit Medien oder Werbung macht. Hier allerdings macht es Sinn, denn wenige Berufe brennen so aus wie diese, in wenigen Branchen herrscht so wenig Verständnis für andere Lebensmodelle als jung, cool und selbstbestimmt. Der Roman spricht ein Thema an, das immer häufiger wird. Eigentlich sogar zwei. Oder drei. Alleinerziehende, Angststörungen und die Tatsache, dass immer mehr Mütter in den Wechseljahren auf Töchter in der Pubertät treffen.

Alles in allem ein Roman, der leicht zu lesen ist und trotzdem zu denken gibt. Der an manchen Stellen ein wenig überzogen wirkt und an anderen etwas mehr „Wumms“ durchaus vertragen hätte. Vor allem aber einer, der in einem völlig falschen Kleid daherkommt. Das Cover passt leider überhaupt nicht. Weder zum Thema noch zur Geschichte.

Michael Schulte-Markwort: Kindersorgen

Professor Dr. Schulte-Markwort ist ein bekannter Kinder- und Jugendpsychiater, ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Universitätsklinikum Hamburg und steht tagtäglich vor der Herausforderung, Kindern und Jugendlichen zu helfen, denen sonst keiner mehr helfen will oder kann. Dabei behält er sich den „Kinderblick“, versucht, Situationen nicht als Erwachsener zu betrachten, sondern sich in den jungen Menschen hineinzuversetzen und kann so vieles erklären, was für andere unerklärlich ist. Wie ein Dolmetscher übersetzt er ausgewählte Situationen und öffnet dem Leser so den Blickwinkel, den er einnehmen muss, wenn er verstehen will.
Kindersorgen sind etwas ganz Normales, nur die Sorgen sind andere als die der Erwachsenen. Und ein Kind, das Sorgen hat, wird nicht zwangsläufig zum Sorgenkind. Das unterstreicht der Autor ganz deutlich. Und zwar auch dann nicht, wenn ein Kind mit Sorgen seinen Eltern Sorgen macht. Stattdessen kann mit Hilfe von außen und dem richtigen Blickwinkel die Welt des Kindes wieder geradegerückt werden. Es fühlt sich ernst genommen und verstanden. Damit uns das auch im Alltag – im Kleinen – immer wieder aufs Neue gelingt, ist diese Lektüre eine gute Unterstützung.
Schulte-Markwort hat sich bereits mit mehreren Titeln einen Namen gemacht, ist der Autor der Burnout- und der Superkids. Er schreibt leicht verständlich und hilft dem Leser, zu erkennen, was Kinder belasten kann und wie wir ihnen helfen können.

Möbest, Korthues: Als Mama nur noch traurig war

Anja Mörbes wagt sich hier an ein Thema, das nur sehr schwer zu erklären gelingt und an das sich auch nur wenige Kinderbuchautoren wagen: die psychische Erkrankung eines Elternteils. Jan ist fünf Jahre alt und manchmal kommen die Grummelgrame. Nicht zu ihm, sondern zu seiner Mama. Er merkt es jedesmal daran, dass sie ihm nicht zuhört, wenn er ihr etwas gaaaaaanz Wichtiges erzählen möchte. „“… und dann hat Lena gesagt, dass ich ihr allerbester Freund bin“ – Aber Mama reagiert nicht, sie starrt auf den Boden. Aber da ist nichts Interessantes, das hat Jan schön überprüft. Da ist gar nichts zu sehen.“
Manchmal geht sie auch einfach aus dem Zimmer, statt ihm abends etwas vorzulesen und mit ihm zu schmusen. Ist zu müde, sagt sie. Sie findet es zu laut, wenn er mit seiner Freundin spielt und weint scheinbar ohne Grund, sagt, dass er und Papa gar nichts verstehen. Und das stimmt, Jan versteht das wirklich nicht. Aber er gibt sich alle Mühe. Und die Schuld. Auch Papa wird immer stiller und lacht kaum noch. Doch dann überredet Papa die Mama zum Ritter zu gehen. „Jan sagt nichts. Aber er ist froh, dass es einen Ritter gibt, der Mama helfen kann.“ Dass der nicht in einer Burg wohnt und auch gar nicht so kräftig scheint, um mit den Grummelgramen fertigzuwerden, verwundert Jan zunächst. Aber dann erklärt Herr Ritter ihm, dass er ein „Seelenklempner“ ist und seiner Mama helfen wird, das Loch in ihrer Seele, in dem die Grummelgrame wohnen zu reparieren und sie so zu vertreiben …

Eine psychische Erkrankung hat immer auch eine Auswirkung auf das Umfeld. Und am schlimmsten ist es, wenn Kinder noch klein sind und nur sehr schwer verstehen können, warum sich Mama oder Papa so seltsam verhalten. Sie beziehen es auf sich und es entsteht, zusätzlich zur sowieso schon schwierigen Situation ein enormer Druck. Umso wichtiger ist es, dem Kind kindgerecht zu erklären, was vor sich geht und dass es nichts, absolut nichts dafür kann. Und leider auch nichts dagegen. Denn helfen muss sich der betroffene Elternteil selbst. Und zwar, indem er sich Hilfe holt. So wie die Mama von Jan.
4.5 Stars (4,5 / 5)

Fleur Smithwick: Wo du auch bist

Alice und Sam sind unzertrennlich. Sie spielen jeden Nachmittag zusammen, sie erzählen sich alles, sie gehen sogar in die gleiche Klasse – aber Sam ist nicht real. Er ist einer der häufig auftretenden imaginären Freunde, die viele Kinder haben und die gerade in schwierigen Lebenssituationen sehr hilfreich sein können. Und wie es mit diesen Wesen ist – irgendwann sind sie weg und keiner weiß, wann genau sie nicht mehr gebraucht wurden. Und so war das auch bei Alice.

Bis bei einem fürchterlichen Unfall, an dem sich die junge Frau die Schuld gibt, ihr bester Freund Rory stirbt. Plötzlich ist Sam wieder da. Inzwischen selbst zum Mann gereift kümmert er sich um die angeschlagene Alice, tröstet und unterstützt sie. Und er wirkt völlig real. Sie kann ihn sehen, sie kann ihn fühlen, wenn er mit ihr allein ist, kann er sogar Dinge bewegen. Ihr Umfeld reagiert mit zunehmenden Unverständnis. Was Alice nichts ausmacht, bis auch Sam anfängt, sie unter Druck zu setzen und dabei immer mehr Macht bekommt.

Das ist bei Weitem nicht alles, was diese Geschichte hergibt. Es ist ein wundervolles Buch über die Kraft der Liebe, aber auch die der Trauer und Verzweiflung, über Realitäten und wie diese von jedem unterschiedlich wahrgenommen werden und über die Wucht von Macht.

Das Einzige, was man diesem Buch ankreiden könnte, ist das Cover. Denn das Original trifft es deutlich besser. Das deutsche Cover ist absolut nichtssagend und wirkt, gemeinsam mit dem Titel wie eine dieser langweiligen Liebesgeschichten – dabei ist der Roman, der bisweilen schon Thriller-Aspekte beinhaltet, alles andere als das. Er gehört zu den Besten. Und um die sonst so verhasste Floskel mal wieder zu bemühen: Man darf gespannt sein auf das zweite Buch der Autorin.
5.0 Stars (5,0 / 5)