Ulrike Wolff: Die Dame vom Versandhandel

Fulda zu Zeiten des Wirtschaftswunders ist die Zeit einer Frau, die ihrer Zeit weit voraus ist. Annie ist eine bewundernswerte, durchgreifende und dazu megaempathische Persönlichkeit und eigentlich führt sie das Unternehmen ihres Mannes – eines der ersten Versandhäuser in Deutschland. Sie hat die Ideen, sie sorgt für den Schwung und gemeinsam sind sie ein echt gutes Team. Doch plötzlich verändert sich etwas bei Kurt, er flüchtet sich in sein Hobby, das Dressurreiten, überlässt ihr immer mehr die Geschäfte und das Schlimmste – er fasst sie nicht mehr an. Annie leidet darunter, weiß nicht, wie sie damit umgehen soll und stürzt sich in die Arbeit.

Stück für Stück kristallisiert sich beim Lesen die unglaubliche Familiengeschichte heraus, die dazu führt, dass Kurt sich so seltsam verhält, dass die beiden fast wie aus dem Nichts heraus plötzlich einen jugendlichen „Sohn“ haben, dass … nein, zu viel soll nicht verraten werden. Denn dieses Buch ist ein Highlight!

Tobias Steinfeld: Scheiße bauen: sehr gut

Vor kurzem war Paul noch ein ganz normaler Achtklässler an einem ganz normalen Gymnasium. Doch plötzlich findet sich der Vierzehnjährige in einem Förderzentrum wieder. Eigentlich zum Schnupperpraktikum, aber aufgrund einer Verwechslung sitzt Paul auf einmal als Per, der Neue, in einer Klasse mit geistig und teilweise auch körperlich eingeschränkten Mitschülern. Was er gar nicht so schlecht findet, bedeutet es doch, dass er nicht nur ums Arbeiten herumkommt, sondern auch noch ganz offiziell zocken und chillen kann. „Fatih zwinkert mir zu. Ich zwinker übertrieben zwinkertickmäßig zurück. ‚Bist du behindert?‘, fragt er. Vielleicht bin ich ja in Wirklichkeit auch behindert. Woher weiß ich das? Wissen die Behinderten denn überhaupt, dass die behindert sind?“ Diese Frage und die Frage, ob nicht vielleicht alle anderen, und zwar die, die sich für ‚normal‘ halten, viel behinderter sind, fragt sich der Per-Paul in den nächsten Tagen immer öfter. Er freundet sich mit Fatih an – eine Freundschaft, die gravierende Folgen hat. Denn auch hier gibt es fürs Scheiße bauen keine Eins.

Der Autor dieses Buches, Tobias Steinfeld, jobbte während seines Studiums an einer Förderschule, sein Coming-of-Age-Roman ist sozusagen so eine Art authentischer Einblick. In eine Schulform, die wie jede andere auch, aus der Individualität der Individuen besteht.

Andreas Völlinger: Burg Tollkühn

Wenn die eigenen Eltern berühmt sind, dann kann das ja eine Menge Vorteile haben. Kann, muss aber nicht. Für Siggi jedenfalls ist es nicht so toll, wenn jeder bei Eltern wie Siegfried und Kriemhild von ihm erwartet, dass er das Heldentum sozusagen mit der Muttermilch eingesogen hat, den Sprössling aber bereits kleine Mäuschen oder Spinnen in die Panik treiben. Was da los ist, wenn auf dem Stundenplan der Heldenschule das Fangen kantropischer Killerhasen oder der Umgang mit Krallenwürgern steht, kann man sich ausmalen. Aber all diese Monster sind gar nichts im Vergleich zu Hagen, eingebildeter Heldennachwuchs und Lebensschwermacher. Doch Siggi ist nicht allein, ihm zur Seite stehen die ehrgeizige Brünhild, der tollpatschige, aber herzensgute Elf Filas und ein Geist – da fallen Heldentaten gar nicht so schwer. Selbst dann, wenn sie eigentlich so nicht geplant waren.

Dieses Buch hat das Potenzial, selbst Lesefaule einzufangen. Und notfalls lässt es sich auch ganz wunderbar vorlesen. Die Charaktere sind mega-sympathisch und auch, wenn die kleinen Helden noch Eingewöhnungsschwierigkeiten haben, diese Schule hat Zukunft – das zeigt sich schon in Band zwei, der bereits erschienen ist und sicher nicht der letzte war.

Marc-Uwe Kling: „Das NEINhorn“

Das kann einem ja vielleicht auf den Keks gehen, wenn alle immer gut gelaunt sind, die Sonne dauernd scheint und die Wolken aus Zuckerwatte sind. Das NEINhorn will nicht mit den Knuddelengeln kuscheln, nicht vom Glücksklee fressen und schon gar nicht will es an rosa glasierten Äpfeln lutschend funkelnde Regenbogen runterrutschen. Es will weg. Und es geht. Gemeinsam mit dem WASbär, dem NAhUND und der störrischen KönigsDOCHter entschließt es sich, sein Leben bockig zu verbringen. Doch das klappt nicht so ganz, denn immer wieder schleicht sich diese blöde gute Laune ganz fies von hinten an.

Neben „Der Tag, an dem Oma das Internet kaputt gemacht hat“ und „Prinzessin Popelkopf“ ist das „Neinhorn“ ein weiteres Kinderbuch aus der Feder des Tausendsassas und ausgemachten Sprachwitzkönigs Marc-Uwe Kling. Seine Känguru-Chroniken haben Kultstatus bei Jugendlichen und sind vor allem als Hörbuch absolut genial.

Nettes Extra: Unter www.dasneinhorn.de gibt es passend zum Bilderbuch Ausmalbilder und Bastelanleitungen.

Sueli Menezes: Nino das Glühwürmchen

Nino, das Kinderglühwürmchen, ärgert sich. Da gibt er sich nächtelang Mühe, ganz toll zu leuchten und anstatt, dass das jemand zur Kenntnis nimmt, bewundern alle nur den Mond. Mama Glühwurm hat wenig  Verständnis für das Gejammer ihres Sohnes. Schließlich ist es nicht seine Aufgabe, die Nacht zu erhellen, sondern sie zu verzaubern. Der Mond aber hat Mitleid mit dem erbosten kleinen Kerl und bittet Nino daher, ihn für eine Nacht zu vertreten. Er brauche eine Pause. Das lässt sich das kleine Glühwürmchen nicht zweimal sagen. Es trommelt alle seine Freunde zusammen, um sie zu überreden, ihm zu helfen. Doch die sind erst mal ziemlich skeptisch …

Ein wunderschönes kleines Bilderbuch, das nicht nur durch seine mutmachende Geschichte, sondern vor allem auch durch die Zeichnungen von Giuliano Ferri lebt. Wie kaum ein anderer versteht er es, unserer Phantasie Spielraum zu geben für die tierischen Charaktere. Besonders schön dazu: die Haptik des Buches, bei der man mit etwas Phantasie jedes einzelne Glühwürmchen erspüren kann.

Jochen Till: Memento Monstrum

Das findet Opa Dracula überhaupt nicht lustig: Seine Frau und seine Tochter verschwinden einfach zu einer Wellnessreise und überlassen ihm die drei Enkelkinder. Dabei hat er keine Ahnung von Kindern. Er weiß nicht, wie man sie füttert. Oder womit. Und er weiß nicht, wie er sie tagsüber davon abhalten soll, ans Sonnenlicht zu gehen. Vor seinem ängstlichen inneren Auge sieht er sich seiner Tochter schon einen Haufen Asche übergeben, wenn diese von ihrem Kurztrip zurückkommt. Aber es hilft alles nichts, der knapp 600-jährige, leicht vergessliche Vampirgroßvater muss babysitten. Doch da kommt ihm die rettende Idee und er packt seine alten Geschichten aus. Geschichten von hinterlistigen Werwölfen, Yetis, Fischmonstern und grässlichen Riesenspinnen – die zeigen, dass in jedem vermeintlichen Monster ein netter Kern stecken kann.

Besonders zauberhaft an diesem Buch ist die Aufmachung. Die Illustratorin Wiebke Rauers hat ganze Arbeit geleistet und die Charaktere extrem putzig umgesetzt.

Stephan Pricken: Monster!

Es ist ein typischer Wochenend- bzw. Feiertagsmorgen: alles unter einem Meter ist bereits hellwach, die Eltern wollen dringend weiterschlafen und nehmen dabei auch so einiges in Kauf. So ist es auch bei Joscha, nur dass seine Eltern ihm dummerweise nicht glauben, dass Monster im Haus sind. Um sein Kaninchen zu beschützen, stürzt sich der Kleine todesmutig ins Erdgeschoss – und lernt die Schrankkrabbler kennen. Ziemlich unflätige Wesen ohne Benehmen, die eigentlich nur auf der Durchreise sind und letztendlich schlimmer aussehen als sie sind. Das Chaos allerdings, das sie anrichten, das wird Joscha in die Schuhe geschoben …

Dieses Bilderbuch spaltet die Leserschaft. Da sind zum einen die, die begeistert „nochmal“ rufen, wenn man es vorgelesen hat und die sich freuen, dass es nun endlich eine Erklärung gibt, warum es, wenn die Eltern dann doch endlich mal aufstehen, immer so verwüstet aussieht und zum anderen die, die sich fragen, was der Zweck eines solchen Buches sein soll. Die Eltern nehmen weder die Ängste des Kindes wahr, noch fragen sie sich, warum ihr sonst so braves Kind einen solchen Saustall anrichtet … diese Monster haben irgendwie nichts Niedliches an sich und werden auch was den pädagogischen Wert angeht, von anderen Bilderbuchmonstern um Längen übertroffen.

Hans Rath: Im nächsten Leben wird alles besser

Arnold Kahl ist etwas über 50 und so angenervt wie die meisten in diesem Alter. Irgendwie läuft es nicht so, wie man es gerne hätte, zum Verändern fühlt man sich aber entweder zu alt oder einfach nicht in der Lage und was bleibt da: meckern, stänkern, mosern. Und diese chronische Unzufriedenheit ruft Streit hervor. So auch bei Arnold, der eines Abends einen ziemlichen Krach mit seiner Frau hat und am nächsten Morgen im Jahr 2045 aufwacht. Als Greis mit zwei geschiedenen Ehen und einem persönlichen Roboterassistenten. Alles ist anders, alles ist hochtechnisiert und wer es sich nicht mehr leisten kann, ein gutes Leben zu führen, der geht einfach nach Times Beach – indem das Gehirn digitalisiert und eingespeist wird. Keine Schmerzen mehr, keine offenen Wünsche, Sex sooft und mit wem man will, tolle Autos, schöne Häuser … Nachdem man ihn regelrecht zwingt, schaut sich Arnold dort mal um und findet nichts, was es wert wäre, hier einzuziehen. Stattdessen wird ihm klar, was wirklich wichtig in seinem Leben war und was alles schief gelaufen ist …

Eingeordnet als Dystopie ist es aber eigentlich gar keine. Eher eine Dys-Utopie. Denn nicht nur Arnold Kahl lernt im Laufe dieser Geschichte etwas, sondern der Leser ebenfalls. Die Lektüre eines Buches wie dieses eines ist, wird wohl an niemandem spurlos vorübergehen.

Laura Jane Williams: Dein Lächeln um halb acht

Eines mal gleich vorweg: Wer auf der Suche ist nach Lektüre, die ablenkt, die Hoffnung macht, die einen nachdenklich macht und mit so einem seltsamen, zufriedenen Grinsen hinterlässt – der ist hier genau richtig. Dieses Buch möchte man überhaupt nicht mehr aus der Hand legen. Endlich mal wieder ein Roman, der diesen Titel verdient: denn romantischer könnte ein Plot wirklich gar nicht sein. Da ist zum einen die zwar erfolgreiche, aber doch reichlich chaotische Nadia und zum anderen der charmante Daniel – beide fahren morgens ziemlich häufig mit der gleichen U-Bahn. Doch eine Frau dort ansprechen – das geht gar nicht, da ist sich Daniel sicher, schließlich will er nicht rüberkommen wie ein Serienkiller oder Lustmolch. Also schweigt er und leidet. Bis sein Kumpel ihn auf die Idee bringt, eine Anzeige in der Zeitung aufzugeben. Rubrik: missed connections – extra ins Leben gerufen für Begegnungen wie diese. Doch Nadia ist sich nicht sicher, ob sie sich wirklich angesprochen fühlen soll – ihr Selbstbewusstsein ist extrem angeknackst durch ihre letzte Beziehung. Aber dann schreibt sie doch zurück und es entwickelt sich nicht nur eine nette Anzeigen-Romanze, sondern parallel noch viel mehr.

Pete Johnson: Wie man 13 wird und überlegt

Ein Halbvampirpärchen lebt so unauffällig und angepasst, dass selbst der eigene Sohn nicht merkt, dass seine Eltern anders sind als andere. Als er allerdings 13 Jahre alt wird, müssen sie ihn in das Familiengeheimnis einweihen und damit gerät so einiges außer Kontrolle. Vor allem im Leben des Geburtstagskindes, denn zum einen steht ihm eine seltsame und auch noch stinkende Metamorphose bevor und zum anderen kämpft er ab sofort darum, sein Spiegelbild zu behalten, die plötzlich auftauchende Blutrünstigkeit im Griff zu haben und sich gefährliche Vampire im wahrsten Sinne des Wortes vom Hals zu halten. Markus ist reichlich genervt. Denn wie so gut wie alle Dreizehnjährigen will er mit Sicherheit eines nicht: so werden wie seine Eltern.

Da der Autor selbst Lehrer ist und anfing Geschichten zu schreiben, als er nichts Passendes für seine Schüler fand, kann man davon ausgehen, dass dieses Buch – übrigens der erste von vier Bänden –  Sinnbild ist für die Pubertät. Denn letztendlich geht es in dieser Zeit ja auch nur darum, die Verwandlung, die man durchmacht, zu akzeptieren.

Besonders cool sind übrigens die CDs – die Art und Weise wie Markus direkt mit seinen Bloglesern und damit mit den Zuhörern spricht, hat was.